Prequel 1 Wächterin
I
Lisa-Louise streckt und dehnt sich. In der Höhle ist es ruhig. Nur das Wasser rauscht leise, wenn es über die Abrisskante fließt und in die Tiefe fällt.
Die Fledermäuse schlafen. Ihr Leben spielt sich zumeist nachts ab.
Sie lebt mit ihnen, aber sie braucht den Tag. Allein von der nächtlichen Jagd mit Mia, dem Bergleopardenweibchen, das sie begleitet, seit Lisa-Louise der Großkatze aus einer Falle befreit hat, kann und will sie nicht leben. Kräuter, Knollen, der gelegentliche Einkauf von Lebensmitteln in der nächstgelegenen Siedlung bei Station 4, vor allem ihr Training für die körperliche Fitness: Das geht nur, wenn die Sonne scheint.
Ein Bad im Wasserbecken der Höhle erfrischt. Das Wasser lässt sie schaudern und bibbern. Sie wäscht die Nacht und den Staub der letzten Tage ab. Die Haare trägt sie ultrakurz, damit sie nicht stören.
Das Rubbeln mit dem Spezialtuch sorgt für die nötige Wärme. Das kleine Zelt tut sein Übriges. Nie haben Menschen so gute Werkzeuge und Ausstattungen gehabt, wenn sie in der Wildnis überleben wollten.
Ihr Anzug liegt an wie eine zweite Haut. Er verbirgt nichts. Susan, ihre ältere Schwester, hat ihn perfekt designt. Sogar die Robos und Droiden tragen ihn. Er schützt besser als das beste Kevlar, ist federleicht, und sein Träger bleibt taktil und haptisch als Mensch oder wird es als Droide. Für das Verdecken bestimmter Körperregionen ist er eher ungeeignet.
Dafür taugt das Combat Equipment. Sie legt es routiniert an. Es ist ultraleicht und selbstredend das Neueste vom Neuen. Beth und Lou, ihre Eltern, haben darauf bestanden, als sie ins Outback gegangen ist. „Wenn du dich schon in Lebensgefahr begibst, dann bitte mit den besten Chancen, sie zu überleben.“
Dad kann derart ätzend sarkastisch sein, aber ich liebe ihn, denkt sie und vergisst kurz, dass dieser Daddy Ohren hat, die bis in ihr Gehirn reichen. Danke dir, Lisa-Schätzchen, kitzelt er sie, und sie muss lächeln. Lachen darf sie nicht, weil sonst die Fledermäuse aufwachen.
Als sie abmarschbereit ist, geht sie lautlos hinüber zum Schlafplatz Magdas, der Chefin der Fledermaus-Kolonie. „Ich bin dann mal weg, Magda. Mach dir keine Sorgen“, zirpt sie leise in ihr Ohr. Fledermäusisch ist eine interessante Sprache, denkt sie.
„Pass auf dich auch, große Tochter“, zirpt sie zurück. Sie gähnt und macht die Entspannungsübung: erst der Flügel rechts übers Köpfchen. Dann der Flügel links. Und nicht umgekehrt. Lisa-Louise haucht ein Küsschen auf das Köpfchen.
Als sie sich abwendet, flattert Nala, eine der beiden Wächterinnen, auf ihre linke Schulter. „Will mit“, lässt sie Lisa-Louise wissen. Sie öffnet daraufhin mit der Rechten die linke Brusttasche der Jacke des Combat-Anzugs. Die kleine Fledermaus schlüpft hinein, kuschelt sich ein und sinkt wieder in den wohlverdienten Schlaf.
Das Ritual ist jedes Mal das Gleiche, nur wechseln sich die beiden Wächterinnen ab, wenn sie hinausgeht aus der Höhle in die gefährliche Welt da draußen. Sie hat sich daran gewöhnt, und ihre linke Brustwarze auch. Manchmal spielen die Fledermäuse mit dieser. Warum, hat sie noch nicht herausgefunden.
* * *
In unmittelbarer Nachbarschaft halten sich die drei auf Lisa-Louise konditionierten Robos und Droiden auf. Sie hat zwar darauf bestanden, dass sie auf sich selbst gestellt sein will in ihrer Lern- und Ausbildungsphase bei Magda und ihren Fledermäusen. Allerdings hat Beth, Mom und Energie-Marschallin, diesen Wunsch schlicht ignoriert. Nicht, dass sie das nicht nachvollziehen kann. Aber wütend darüber ist sie dennoch.
Sie ist auf das Plateau aufgestiegen und spürt bereits Mia an ihrer Seite. Als sie zu laufen beginnt, kann sie sie links vor sich immer wieder springen sehen. Sie beschleunigt ihre Schritte und gewinnt an Geschwindigkeit.
Beim Laufen konnektet ihr Helm mit der SatComm. Der Feed beginnt. Ihre Sinne fokussieren sich auf den Weg. Mit den neuen Hightech-Schuhen schafft sie locker 50 km/h. Wenn sie den Turbo einschaltet, können es kurzzeitig auch bis zu 80 km/h sein. Das ist so schnell wie vor ein paar Generationen mit dem E-Bike. Und genauso energiesparend.
Sie nimmt den Weg den Albtrauf entlang. Heute hat sie vor, zum Aussiedlerweiler in der Senke ungefähr 80 Kilometer entfernt zu laufen. Die kleine Siedlung mit fünf Gehöften und zwei kleinen Betrieben liegt fast gleichweit von der Energie-Station wie von der Höhle, von der sie gestartet ist.
Lisa-Louise rennt. Sie kommt gut voran. Auf einmal spürt sie dieses Gefühl, dass etwas Schlimmes geschieht. Nala rumort zeitgleich in der Brusttasche. Sie will raus. Ohne abzubremsen, fährt die Rechte nach oben und schnippt die Tasche auf. Die Fledermaus steckt ihren Kopf hinaus.
Lisa-Louise rennt schneller. Die Landschaft fliegt regelrecht an ihr vorbei. Die kleine Fledermaus beschließt, das mit dem Fliegen zu lassen. Von einer rasenden Rolanda zu starten, erscheint ihr doch nicht besonders schlau. Sie flüstert auf Fledermäusisch das Äquivalent von ‚Scheiße!‘.
Lisa-Louise rennt nochmals schneller. Gleichzeitig verbindet sie sich mit Peter Tosh, dem Energie-General für die Aufklärung. „Peter“, sie gibt die Koordinaten durch, „kannst du einen Satelliten auf die kleine Siedlung ausrichten? Ich weiß, dass dort etwas Schlimmes passiert.“
Peter kennt Lisa-Louise gut genug, um nicht zu fragen. Ihre Vorahnungen sind legendär.
Sie kommt auf eine Anhöhe. Die Gehöfte müssen in der Ferne zu sehen sein. Was sie in der Ferne erkennt, sind Rauch und Feuer.
„Peter“, schreit sie in die Comm, „die Siedlung brennt. Schick Hilfe!“
Und dann beschleunigt sie nochmals.
* * *
In Rufweite der Ansiedlung bremst sie ab und geht Deckung. Sie beobachtet, wie auf dem Gelände zwischen den Häusern Gestalten in paramilitärischen Uniformen hin- und herrennen. Einige Bewohner schreien, als sie zusammengetrieben werden. Andere liegen auf dem Boden.
Mia hat sich neben sie auf den Boden gelegt. Ihre Erregung zeigt sich, indem ihr Schwanz hin- zu her zuckt. Ein leise tiefes Grummeln kommt aus ihrer Kehle.
Lisa-Louise ruft ihre drei Robos. Sie werden mit dem neuen Hoover-Gleiter kommen und in ca. 25 Minuten hier sein. Danach aktiviert sie die Stille Truppe bei Station 4. Sie wird etwas länger brauchen.
Sie entschließt sich, nicht abzuwarten, weil sie helfen will. Nein, muss. Etwas in ihr treibt sie dazu an.
Die Großkatze drängt sich an sie. Sie sucht die Nähe, weil sie spürt, dass etwas geschehen wird. Sie hat ein feines Gespür für das, was ihre Freundin und Partnerin vorgeht.
Lisa-Louise nimmt Mias Kopf und küsst sie auf die Stirn. Dann legt sie die Linke auf ihre Stirn, schließlich geht sie in die Hocke und ersetzt die Hand durch ihre eigne Stirn. Dabei scheinen sich beide Wesen zu synchronisieren. Sie sehen sich lang in die Augen, trennen sich und schleichen sich an.
Als sie das erste Gebäude erreicht, hört sie Stöhnen und Weinen. Sie schafft es unentdeckt in das Wohnhaus. Im Inneren herrscht das blanke Chaos. Im Wohnzimmer liegen zwei Körper auf dem Boden. Rasch beugt sie sich bei der ersten Gestalt nieder und legt ihre Hand auf. Die Sensoren registrieren kein Leben mehr. Die nächste Gestalt ist ebenfalls tot.
Sie erhebt sich und eilt in Richtung des Stöhnens. Im Kinderzimmer kniet ein kleines Kind vor einer an einen Schrank gelehnten jungen Frau. Sie hält sich ihren Unterleib und stöhnt. Blut quillt über ihr Hände. Das Gesicht ist wegen des Blutverlusts bereits durchscheinend bleich.
Lisa-Louise legt die Hand auf die Schulter des kleinen Jungen. „Sch!“, sagt sie nur, und er wird ganz ruhig. Die Frau sieht sie staunend an, als Lisa-Louise das Kind aufnimmt und auf das Bett setzt. Sie streicht seinen Kopf und gibt ihm einen kleinen Stups auf die Nase.
„Ich bin Lisa-Louise und Ärztin. Darf ich mich um dich kümmern?“
Die junge Frau nickt. Schon liegt Lisa-Louises Hand auf ihrem Kopf. Vor ihrem inneren Auge spielt sich die Szene ab, in der die Patientin ihre Verletzungen erfahren hat. Die Bahn des Geschosses durch ihren Unterleib, das Durchschlagen der Milz und der rechten Niere. Der Austritt aus dem Rücken. Der Einschlag in der Zimmerwand. Das Zusammenklappen des Körpers und der Fall auf den Boden.
In diesem Moment stürmen Elly, Dahlia und Raleigh, ihre drei persönlichen Robos, in den Raum, der auf einmal sehr voll ist. Danke, dass ihr da seid. Ich brauche eure Hilfe. Dahlia, ich streame dir meine Diagnose. Versorgst du sie bitte?
Schön, wenn man zusammen denken kann. Das spart das Sprechen.
„Junger Mann, wie heißt du?“, fragt Dahlia, als sie sich um die junge Frau kümmert. Als wöge sie nichts, legt der Robo sie aufs Bett. Raleigh hat zuvor ein Fleece ausgebreitet.
Das Kind schaut sie mit großen Augen, zeigt aber keine Angst. „Ich bin Ben“, stellt er mit fester Stimme klar, „und das ist meine Schwester Constanze.“ Er weist mit dem Finger auf die junge Frau. „Wo sind Mama und Papa?“, will er wissen.
In Lisa-Louises Gedanken schießt eine furchtbare Gewissheit. Die Eltern der beiden sind die Toten im Wohnzimmer. Ob eine Notlüge jetzt die richtige Wahl ist? Sie weiß es nicht.
Ihr bleibt die Antwort erspart, weil Mia, die Bergleopardin, durchs offene Fenster steigt. Grazil und leise kommt sie zu Lisa-Louise und schnüffelt an ihrer linken Hand, um sie abzulecken. Ben zuckt nicht einmal. „Wie heißt sie?“, fragt er. Und: „Darf ich sie streicheln?“
„Gibst du mir einen Moment mit ihr?“
Lisa-Louise geht in die Hocke und umarmt die Großkatze. Danach legt sie ihre Stirn an die des schönen Tiers und krault sie hinter dem Ohr. Aus Mias Kehle kommt ei kehliges Schnurren, und ihr Schwanz bewegt sich zitternd hin und her. Lisa-Louise schließt die Augen und sieht, was die Katze gesehen hat, seit sie sich getrennt haben. Das Streamen geht im Fastforward-Format. Sie beendet die Sitzung mit einem Kuss auf Mias Nase.
Die große Katze schüttelt sich die Spannung aus dem Fell, und Lisa-Louise sucht ihren Körper systematisch nach Verletzungen ab. Dabei murmelt sie immer wieder leise: „Ach, meine Mia, warum tust du das alles für deine Lilly? Ich stehe doch längst in deiner Schuld!“
Und sie streicht über die Schrunden und Wunden. Diese verschwinden wie durch ein Wunder, als ob es nie gegeben hätte.
Als sie fertig ist, wendet sie sich dem Jungen zu.
„Mia bleibt bei euch und passt auf deine Schwester und dich auf. Dahlia wird Constanze verbinden und für den Transport vorbereiten. Die Sicherheitskräfte kommen in einigen Momenten. Ich werde mit Elly und Raleigh die Häuser nacheinander nach Verwundeten absuchen. Hab keine Angst, wir drei kommen wieder!“
Der kleine Mann kuschelt sich bereits an Mia, die das stoisch mit sich machen lässt. Lisa-Louise hat sie darum gebeten.
Lautlos schleichen sie sich die drei Retterinnen aus dem Haus und halten Ausschau, wie sie am besten gefahrlos die Freifläche zum nächsten Gehöft überwinden. Die beiden Robos sichern das Gelände, als ihre Chefin schnell wie der Blitz hinüber saust und sich hinter einem Hauseck aus dem direkten Schussfeld bringt.
Aus einem Fenster blitzt der Lauf einer Waffe. Lisa-Louise denkt an Elly: Ich mach das schon. Schon ist die Waffe mitsamt ihres Besitzers auf dem harten Boden vor dem Fenster. Gemeinhin unterschätzt man sie erheblich. Wer das jetzt gesehen hat, tut das nicht mehr.
Als der Schütze sich aufrappeln will, liegt er bereits wieder wie eine Schmeißfliege auf dem Rücken. Lisa-Louises rechter Fuß hat ihn mit einem Säbeltritt gefällt. Als er sich aufrichtet, um zu schreien, sieht er in ihrem ernsten Gesicht den Zeigefinger auf dem Mund und das leichte Kopfschütteln. Er hält kurz inne, holt tief Luft und setzt gerade zum Schrei, als ihn ein Fuß auf dem Hals einbremst.
„Denk nicht einmal dran, mein Freund!“
Die eiskalte Drohung in der Stimmlage lässt die Luft wieder ab.
„Umdrehn!“
Kaum liegt der Milizionär auf dem Bauch, sind Hände und Füße gefesselt. Danach kommt der Knebel. Es soll ja Stillschweigen gewahrt bleiben, nicht wahr?
* * *
Als sie die Gebäude durchsuchen, finden sie erneut Zerstörung, Durcheinander und Tote. Erst im Viehstall haben sie Glück. Ein völlig verschüchtertes fünfjähriges Mädchen hat sich im Stroh versteckt. Ihre Eltern, Geschwister und Großeltern sind abgeschlachtet. Lisa-Louise hat Tränen in den Augen, als sie das Kind aufnimmt.
Sie legt einfach die Hand auf den kleinen Kopf, und Janina, so heißt die Kleine, beruhigt sich sofort. Sie kuschelt sich an Lisa-Louise. Sie fragt nicht einmal nach ihren Eltern, weil sie gesehen hat, wie man sie umgebracht hat. Was die junge Ärztin dabei sieht, bringt sie fast um den Verstand. Dieses sinnlose Leid will und kann sie nicht verstehen.
„Elly wird dich hinüberbringen zu Ben und Constanze, Schätzchen.“
„Ich mag Ben“, sagt das Mädchen und nickt ernsthaft. In diesem Alter sind die kleinen Menschen oft noch Sonnenscheinchen – wenn auch nicht immer.
Raleigh und Lisa-Louise sichern, und Elly eilt hinüber.
Jetzt kommen die Helis endlich. Warum haben sie solange gebraucht, fragt Lisa-Louise in den Äther. Niemand antwortet.
Sie geht mit Raleigh in Deckung und dirigiert die endlich ankommenden Sicherheitskräfte in einem CommCall, indem sie ihnen die Lageeinschätzung von Mias Beobachtungen durchgibt. Die Copter landen auf der Anhöhe, von der aus sie sich den ersten Eindruck vom Geschehen gemacht hat.
Die Sicherheitskräfte setzen sich in die aus den Bäuchen der großen Düsen-Helis entladenen Gleiter. Sie schießen in irrer Geschwindigkeit in den Weiler. Ein Heli steigt auf und schießt zwei mobile Drohnenrampen der Milizionäre zu Klump. Das Hauptquartier der Angreifer wird eingeschlossen und diese zur Aufgabe aufgefordert.
Währenddessen ist Elly wieder bei Lisa-Louise und Raleigh.
Das Retterinnen-Trio rennt schneller als der Schall zum dritten der fünf Gehöfte. Sie beobachten auf ihrem Weg, dass zwei der ST-Gleiter dabei sind, den ersten der beiden Brände zu löschen. Leider ist von der betroffenen Produktionshalle nur noch das Gerüst der Stahlträger übrig.
Im Wohngebäude scheint sich niemand zu regen. Elly röntgt die Mauern. Die Angreifer sind noch drin, drei Stück genauer gesagt, lässt sie wissen. Diele links, Diele rechts, Diele hinten. Lisa-Louise bewegt sich durch das Abbild des Hausplans, den Elly in ihrem Speicher aus den ermittelten Daten erstellt hat.
Lisa-Louise denkt den Plan in die Speicherchips: Elly, du von hinten durch den Übergang vom Stall. Raleigh, du nimmst die Vordertür und neutralisierst Diele links. Ich komme über die Veranda und nehme mir Diele rechts vor. Alles Roger. Alles Roger. Auf geht’s, Mädels.
Eins, zwei, drei, zählt sie, und dann spritzen alle drei auseinander. Sie syncen sich vor dem Einstieg und schlagen zugleich los.
Als sie durch die Verandatür gehechtet ist – das Sicherglas ist mit einem lauten Knall dabei geplatzt –, sieht sie, wie die Milizionärin herumfährt und ihre Waffe in den Anschlag bringen will. Aus ihrem rechten Arm schnellt ein Fangseil, das sich um das Handgelenk der Angreiferin legt. Sie reißt das Seil zu sich.
Die Waffe macht den Abflug, die Milizionärin kommt aus dem Gleichgewicht, und der folgende Fußtritt an ihr Kinn knockt sie aus. Als sie auf dem Boden aufschlägt, ist sie bereits ohne Bewusstsein. Sekunden später ist sie wie ein Paket verschnürt und gesichert.
Sie hört Raleigh in ihrer nachhaltigen Art, ihre Aufgabe lösen.
„Waffe weg, mein Jungchen“, schnappt diese, als der Milizionär die Waffe abfeuern will. Der reagiert nicht und zieht durch: Das ist sein letzter Fehler. Sie pflückt die Geschosse aus der Luft, holt aus und sendet sie retour. Die Schutzweste des Gegners wird an mindestens einer entscheidenden Stelle perforiert. Er ist tot, bevor er auf den Holzbohlen liegt.
Parallel hat Elly absolut lautlos den Stall durchquert und steht hinter dem dritten Milizionär, der gerade eine Granate in die Diele werfen will.
„Hände hoch“, zischt sie schneidend. Das erschreckt den vor ihr Stehenden derartig, dass er seine Bewegung anhält und herumfahren will. Mit zwei gezielten Schlägen fällt sie ihn wie einen Baum. Auch bei ihm kommt jede Hilfe zu spät.
Bleibt die Milizionärin. Doch die muss warten.
Haus durchsuchen, gibt Lisa-Louise als Aufgabe an, hoffentlich finden wir noch Lebende.
Wieder verteilen sie sich gedankenschnell. Lisa-Louise nimmt den Keller, Elly das Obergeschoss und Raleigh das Erdgeschoss und den Stall.
Tatsächlich findet Lisa-Louise im Keller drei völlig verängstigte Kinder und ihre Mutter. Sie sind traumatisiert, aber zum Glück unverletzt. Der Vater hat versucht, das Haus und seine Familie zu verteidigen.
Elly findet ihn schwer verwundet auf dem Treppenabsatz des Obergeschosses. Er scheint die Angreifer abgelenkt zu haben.
Lisa-Louise schickt Raleigh mit den drei Kindern und ihrer Mutter hinüber zu Dahlia, Mia, Constanze, Janina und Ben. Sie kümmert sich mit Elly um die Erstversorgung und ordert die Sanitäter der Stillen Truppe zum Haus. Wenn sie großes Glück haben, überlebt der Vater den Überfall.
Die Kämpfe mit dem verbliebenen Gros der Milizionäre dauern noch an. Als Raleigh wieder zurück ist und sie den verletzten Mann den Sanitätern übergeben haben, machen sie sich auf, die nächsten beiden Höfe in Augenschein zu nehmen.
Was sie dort vorfinden, geht über das Erträgliche weit hinaus. Es ist so furchtbar, dass selbst die Robos weinen. Susan hat ihnen Gefühle und eine neue Sensorik gegeben. Das ist selbst für Lisa-Louise ungewohnt; aber das Mitgefühl ob des Blutbads, das diese Bestien angerichtet haben, tut ihr bis in die Seele hinein gut.
Zerfetzte Leichen, zuvor geschändete Mädchen und Frauen, die anschließend sinnlos abgeschlachtet worden sind: Das übertrifft alles, was sie bisher erlebt. In allen Fällen kommt die Hilfe zu spät. Ein dreijähriger Junge haucht auf ihrem Schoß sein Leben aus.
Sie bilden vor dem letzten Hof einen Kreis und weinen sich gemeinsam das Erlebte aus den Seelen. Danach berichtet sie dem Forensik-Team der Stillen Truppe an Station 4, was sie gesehen. Der Feed der Helmkamera steht den Kriminaltechnikern zur Verfügung. Seit dem gewonnenen Krieg gegen die AN sind diese Vorfälle leider zahlreich, und sie werden häufiger.
II
Nach dem Debriefing in Station 4 kehrt Lisa-Louise in die Fledermaushöhle zurück. Sie berichtet von ihrer Rettungsaktion. Nala steuert das bei, was sie gesehen hat. Die Fledermäuse sind sehr aufgeregt und trauern um die Opfer.
Magda sieht sie ernst an und entscheidet: „Du musst dich um Ben, Constanze und Janina kümmern. Sie sind jetzt deine Familie.“
Lisa-Louise ist nicht sehr überrascht. Ihre Vorahnung hat sie auf einer Reise mit den Dreien gesehen. „Ist meine Lehrzeit damit zu Ende, Magda?“
„Das musst du Nala und Nola fragen. Sie sind deine Lehrmeisterinnen.“
Die beiden Fledermäuse fliegen in ihre Hände und legen sich hinein.
„Wir werden dich vermissen, Lilly, deine Hände sind so schön warm und weich. Und in deiner Brusttasche ist es wunderbar. An dem Knubbel kann man sich so schön den Rücken reiben.“ Jetzt versteht sie, warum ihr Nippel so begehrt ist.
Nachts begehen sie den Abschied. Jede einzelne Fledermaus aus der Kolonie will sich an sie schmiegen und mit ihr zirpen. Überall sitzen sie und kuscheln sich an und in so gut wie jeden Teil des Körpers. Lisa-Louise lässt es mit sich machen.
Sie kann sich in eine Art Wachtrance versetzen und dabei die Zukunft ausleuchten. Was sie sieht, macht ihr keine Freude. Er werden Wassersturz, Dürre und Sandsturm über sie kommen. Ein Wirbelsturmfeld wird alles zerstören, das nicht sturmfest ist. Sie muss warnen, warnen, warnen.
Bevor sie aufbricht, ruft sie Magda, Nola und Nala zu sich und informiert sie über das, was sie gesehen hat.
„Zuerst wird viel Wasser kommen und danach zwei Jahre keins. Es wird Staubstürme geben und anschließend einen vernichtenden Gewittersturm mit Tornadofeldern, der tagelang wüten und alles überfluten wird. Ihr müsst Vorsorge treffen.“
„Ich gebe dir Mathys mit. Er wird die Verbindung zu den Fledermäusen halten“, sagt Magda, die sich auf ihre linke Schulter gesetzt hat und sich in der Halsbeuge an ihre Schlagader drückt.
„Ich liebe es, das Leben in dir zu spüren, Lilly, meine Tochter“, nickt sie versonnen, als könnte sie Lisa-Louises Gedanken lesen. Lisa-Louise lächelt.
„Danke, Magda, Nola, Nala, ihr Lieben! Es ist schön gewesen bei euch. Ich habe viel gelernt und werde euch furchtbar vermissen! Passt auf euch auf!“
Sie schultert ihren großen Backpack, nachdem sie den Combat-Anzug über ihre zweite Haut gestreift hat. Mathys schlüpft in die linke Brusttasche. Er kann es nicht lassen, seinen Rücken am empfindlichen Nippel zu reiben. „Lass das“, zirpt Lisa-Louise scharf.
Als sie auf dem Plateau ankommt, schließt sich Mia ihr an. Ein paar sehr begehrliche Augen folgen ihrem federnden Gang. Sie ist eine schöne junge Frau, und ihre Kleidung verbirgt zwar eine Menge, aber man kann ahnen, was darunter ist. Der, der sie mit gierigen Blicken verschlingt, hat es genau darauf abgesehen.
Was er nicht weiß, ist, dass die junge Frau, auf die er es abgesehen hat, den siebten Sinn besitzt und die Blicke spürt. Sie kann sogar den Standort lokalisieren, an dem sich derjenige welche aufhält.
Genau diesen gibt sie an ihre Robos durch, von denen zwei das tun, wofür sie da sind: ihre Chefin zu schützen.
Als sich der Stalker, ein Versprengter der Milizionäre, die die Siedlung überfallen haben, in Bewegung setzen will, steht Raleigh im Weg.
„Nicht da lang, hier lang!“, ist ihre Ansage.
„Du hast mir nichts zu sagen,“ ist die prompte Reaktion.
„Hat sie“, hört er von halbrechts hinter sich.
Als er einen Schritt nach hinten links macht, hat er beide Robos im Gesichtsfeld. Die beiden stehen cool und locker da – ganz, wie wenn sie sich ihrer sehr sicher wären. Das sind sie tatsächlich.
„Aus dem Weg“, lässt er von sich hören.
„Ich glaube, das solltest du dir ganz genau überlegen. Du hast nur ein Leben, keine sieben wie eine Katze.“
Er beäugt die beiden Droiden.
„Ihr hirnlosen Apparaturen wollt mich von meinem Weg abhalten? Trollt euch. Ich bin schließlich der Mensch hier.“
„Als ob uns das interessierte. Unsere Chefin, das ist die Dame, die du mit deinen Blicken gerade versucht hast auszuziehen, hat eine klare Meinung zur weiteren Entwicklung der Angelegenheit. Die lautet: Du machst dich in die gegensätzliche Richtung auf. Tu das lieber. Sie hat ausdrücklich angewiesen, dir nicht wehzutun, wenn du klug bist und das tust, was wir dir gerade nahelegen.“
Der Milizionär betrachtet sich die Ausgangslage und tut das Richtige. Er wendet sich um und verschwindet wortlos in die angegebene Richtung.
Aus Raleighs Backpack löst sich eine Drohne, die aufsteigt und den Milizionär ein paar Stunden begleitet, bevor sie zurückkehrt. Sie hat zwei davon.
Sicher ist sicher, lässt sie Lisa-Louise und ihre beiden Robo-Kollegen wissen. Elly und Raleigh wenden sich in die andere Richtung und sausen Lisa-Louise und Begleitung hinterher.
* * *
Lisa-Louise holt die drei elternlosen Kinder in Station 4 ab und entscheidet sich dafür, vorerst auf einem der beiden Höfe mit ihnen zu wohnen. Es geht darum, den Besitz der Kinder zu sichern, die Tiere zu betreuen und die Ernte einzubringen. Zwei Höfe sind mehr als einer, denkt sie mit gewissem Grausen.
Für sie und ihre Helferinnen ist das zuerst eine Herausforderung. Die KI, die sie im Hintergrund haben, ist eine echte Stütze. Und Constanze. Als sie gesund geworfen ist und sich psychisch einigermagefangen hat, wird sie zu einer Art Trainerin. Lisa-Louise lernt in Lichtgeschwindigkeit. Die drei anderen Höfe sind verwaist. Die Familie, die überlebt hat, gibt ihren Hof leider ebenfalls auf.
Auch die Versorgung der dortigen Tiere und die Bestellung der Felder fällt deshalb auf sie zurück. Nach einiger Zeit übernehmen Verwandte der ermordeten zwei der Gehöfte. Das dritte wird verkauft.
Im Weiler wird ein Posten der Stillen Truppe eingerichtet. Ein Zug mit elf Sicherheitskräften richtet sich aufs Bleiben ein. Die Patrouillen werden gemischt durchgeführt.
Lisa-Louise lässt es sich nicht nehmen, immer wieder einmal mit Mia durch die Natur zu streifen. Dabei geht es nicht nur um die Fitness; sie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Flora und Fauna der Albhochfläche zu untersuchen.
Die Zisternen und Regenrückhaltebecken, die die Energie hat errichten lassen, haben die Umwelt beeinflusst. Den Strom liefern Solarzellen und einige Windräder. Abgesichert wird das Ganze durch Station 4. Erdkabel sorgen dauerhaft für ein Backup – wenn die Eigenversorgung ausfällt. Die Bewässerungsanlagen benötigen den Strom zur Steuerung. Satelliten und Drohnen managen neben Messeinrichtungen für die optimierte und sparsame Versorgung mit dem wertvollen Wasser.
Dahlia und Elly passen bei diesen Ausflügen auf die Kinder auf. Die Drei haben sich daran gewöhnt, dass ihre Haushaltsvorständin immer wieder für einige Tage untertaucht. Nachts schleichen sie sich in ihr Schlafzimmer und schlafen zusammen in ihrer Bettwäsche, die so schön nach ihr riecht.
Dahlia muss mit im Raum sein. Die Hofhunde der beiden Familien liegen in ihren Körben unten im Wohnzimmer und haben neben Elly ein wachsames Auge auf alles.
Schwierigkeiten machen die Wildhunde. Sie ähneln im Verhalten den australischen Dingos und haben mehr mit Wölfen als Haushunden gemein, von denen sie abstammen. Sie jagen in Rudeln und sind nach dem Menschen das zweitgefährlichste Raubtier in der Gegend.
Sie selbst übernachtet bei den Fledermäusen. Morgens klettert sie nur in ihrer zweiten Haut gekleidet wie ein Affe den Fels hinunter, um ein Bad im Tümpel und unter dem Wasserfall zu nehmen. Unten wartet bereits Mia auf sie, die nie weit von ihr entfernt lagert.
Auf dem Rücken trägt sie Fleecetücher, ein Necessaire und eine Waffe. Im Holster sind die Comm und ein Fern- sowie ein Blasrohr. Seit der großen Not sind verwilderte Hunde eine Gefahr. Sie ähneln im Verhalten den australischen Dingos und haben mehr mit Wölfen als Haushunden gemein, von denen sie abstammen.
Ihr Lieblingsplätzchen hat sie mit Moos ausgelegt. Darauf legt sie alles ab und schält sich aus ihrer zweiten Haut. Mia streicht um ihre Beine und schnurrt mit ihrer besonderen Tonlage. Sie wird mit ihrer Freundin baden gehen.
Lisa-Louise ist nicht unvorsichtig, spürt aber, dass sie diesmal erneut einen Beobachter haben werden. Scham kennt sie nicht. Ihr Leben in der Natur hat Nacktheit zu etwas absolut Normalen werden lassen. Sollen er oder sie sich doch die Augäpfel aus dem Kopf starren, beschließt sie. Sind ja nicht ihre Augäpfel.
Sie weiß mit Sicherheit, dass er nichts wirklich Böses im Schild führt. Außer dass er seine Augen nicht von ihr lassen kann.
Schließlich und endlich es gibt nichts, dass sie verbergen müsste. Sie ist sich ihres Körpers bewusst und würde nicht das Geringste an ihm ändern wollen. Nur eines wäre gut: etwas regelmäßiger richtiges Krafttraining. Die harte körperliche Arbeit auf den beiden Höfen war kein adäquater Ersatz. Aber der bereits bestellte Gerätepark für den Fitnessraum wird in Kürze geliefert.
* * *
Mia und Lisa-Louise balgen sich unter dem Wasserfall. Das Wasser spritzt nach allen Seiten. Das Spiel sieht gefährlicher aus, als es ist. Die Großkatze beißt nicht, sie zwickt allenfalls.
Als sie genug haben, verlassen sie den Tümpel und schütteln sich. Die Tropfen fliegen vor allem bei Mia, aber nicht nur dort. Dann rubbelt Lisa-Louise sie beide mit einem der Fleece-Tücher ab. Auf dem anderen Tuch drappieren sie sich lässig.
Die brennenden Augen spürt sie immer deutlicher. Sie starren auf Stellen, bei denen es ihr langsam unangenehm wird. Vor allem wenn sie ihre Beine bequem auseinander legen will, damit die Sonne auch den Schoß zwischen ihnen warm bescheinen und trocknen soll.
Sie hat sehr wenig Körperbehaarung, so dass man mehr sieht als üblich. Nicht dass sie sich dessen schämt, was dort ist. Aber es stört schon, wenn unegale und nicht eingeladene Blicke einem bis an die Eierstöcke zu sehen vermeinen.
Sie aktiviert Raleigh.
Bring mir den Voyeur. Ich will ihn sehen und ihm ein paar Dinge sagen. Danke dir, denkt sie in das Droidenhirn. Ja, Lilly, kommt als Betätigung. Take it as done.
Die Bergleopardin liegt bei ihr auf der Seite und hat inzwischen den Schoß mit ihrer rechten Hinterpranke und die linke Brust der rechten Vorderpfote bedeckt.
Nach einer Weile wird ihr das zu schwer und zu warm.
„Mia, Schatz, du bist zu schwer. Ich bekomme fast keine Luft“, sagt Lisa-Louise halblaut und verschlafen. Sie nimmt die Pfote und hebt sie ein wenig an.
Die Katze niest und knurrt ein wenig, steht auf und kringelt sich neu ein. Jetzt dreht Lisa-Louise in Mias Richtung und legt ihr den linken Arm um den Hals. In dieser Position nicken beide wieder ein. Weiblicher Akt mit Leopardin dürfte der Voyeur gerade denken, ist das Letzte, das sie mitbekommt.
III
Sie erwacht, als etwas in unmittelbarer Nähe schwer auf den Boden poltert. Dass Mia sich nicht geregt hat, wundert sie nicht mehr, als sie Raleigh erkennt. Ein gut verschnürtes Bündel liegt auf dem Boden zwischen ihrem Ruheplatz und der Kampfdroidin.
Mach ihn los, denkt sie an Raleigh und setzt sich auf. Die Bergleopardin positioniert sich an ihre Seite und äugt scharf auf das Paket.
Raleigh fährt ihren rechten Arm aus. Der Knoten ist schnell gelöst. Leises Stöhnen begleitet den sich aus einander faltenden Körper, der sich als ein etwas mehr als mittelgroßer männlicher Waldläufer entpuppt. Ein offenes, nicht gerade besonders sauberes Gesicht sieht sie prüfend an.
„Du stinkst wie Bock“, kommentiert Lisa-Louise. „Bevor ich weiter mit dir rede, nimmst du ein Bad, aber zackig.“
Sie greift neben sich und wirft der Gestalt etwas zu, das wie Seife aussieht und auch eine ist.
Er will protestieren.
„Dann muss ich mich ja ausziehen.“
„In der Tat, dann herrscht ausgleichende Gerechtigkeit. Oder siehst du an mir irgendwelche Kleidung? Also mach hinne, ich werde ungeduldig.“
Sie grinst ihn herausfordernd an.
„Also gut, aber unter Protest.“
„Meinst du das jetzt ernst? Echt jetzt! Du amüsierst mich! Erst starrst du mir stundenlang zwischen die Beine und leckst im Geiste mit deiner Zunge über meine Nippel, und jetzt machst du einen auf verklemmt. Geht’s noch?“
Er steht auf und zieht sich in aller Seelenruhe aus.
„Wie du meinst.“
„Ich meine exakt dieses, und deine verratzten Klamotten nimmst du gleich mit ins Wasser. Dann kannst du das in einem Aufwasch erledigen.“
Er nimmt den Kleidungshaufen auf und marschiert indigniert zum Wasserfall. Lisa-Louise genießt das Schauspiel. Schlank ist er, sehr schlank. Er läuft viel und lange Strecken. Die langfaserigen Muskeln sind ausgeprägt.
Die Haut hat einen olivfarbenen Schimmer. Und der Hintern, der gefällt ihr, nein, sie findet ihn richtig attraktiv. Seine Hände sind schön. Etwas in ihr ist der Auffassung, dass sie sie gern auf sich spüren würde. Solche Gefühle hat sie lange nicht mehr gehabt, und schon gar nicht so konkrete. Ihr Körper reagiert auf eine ebenso wunderbare wie irritierende Weise.
Du findest also Voyeure geil, Mademoiselle, stellt sie mit Amüsement fest. Nun, antwortet sie selbst, wenn sie so aussehen, dann schon.
Seine Augen! Sie haben die Grundfarbe des Bernsteins, aber mit grünen, braunen, blauen und goldenen Einsprengseln. Wenn man zu lange in diese Iris schaut, droht man in ihr zu versinken.
Ich würde so gern in ihr versinken, sagt die Stimme von vorhin in ihr. Sie lässt das zu, ohne sich zu wehren. Ihre Nackenhaare stellen sich auf, sie fühlt es.
Mia wird unruhig und mault leise, indem sie Atemluft laut durch ihre Nüstern ausbläst. Sie spürt, dass ihre Freundin sich auf jemanden anderen fokussiert. Ich bin auch noch da.
Lisa-Louises Hand legt sich auf den Kopf der Großkatze. Schon verschwindet bei dieser die aufgebaute Körperspannung wieder. Ein tiefes Grummeln bezeugt die Zufriedenheit.
Zuerst spürt sie die Unlust des Badenden. Das Wasser und seine Sensation sorgen dafür, dass sich diese schnell verflüchtigt. Menschen spielen viel zu gern. Und dieser Wasserfall mit seinem großen Becken lädt dazu regelrecht ein.
Das Schauspiel vor ihr berührt sie mehr, als sie erwartet hat. Die ursprüngliche Ablehnung verändert sich in Anziehung, also das glatte Gegenteil. Der junge Mann gefällt ihr. Nur Haare und Bart müssten in Ordnung gebracht werden.
Schließlich beginnt er, die Kleidung zu waschen. Als er damit fertig ist, nimmt Raleigh sie ihm ab und hängt sie im Umfeld in der Sonne auf. Parallel reinigt er sich selbst. Am Ende geraten die Waschungen ein wenig zum Showing-Off, weil ihr unfreiwilliger Gast natürlich mitbekommen hat, dass Lisa-Louises Blicke inzwischen so forschend und begehrlich sind, wie die seinen es gewesen sind, als er durch sein Fernrohr ihre Schamhaare gezählt und ihre Labien bewundert hat.
Schließlich wird es ihm doch ein wenig zu kalt, und er verlässt sein Bad. Lisa-Louise muss an die griechische Mythologie denken: Ob Paris diesmal ihr den Apfel bringt? Sie ist zwar nicht Helena, aber so schön wie sie fühlt sie sich gerade allemal. Und sie hat, was sie noch nicht ganz verstanden hat, damit mehr als recht: Ihre äußere Schönheit ist in der Tat kaum zu übertreffen.
* * *
Die nächsten anderthalb Stunden verbergen sich unter einer Art extremem Rauschen der Gefühle. Das Einzige, das Lisa-Louise sich an Konkretem merken kann, ist sein Name: William Marin. Sie hat ihre Hand auf seinen Kopf gelegt und erfahren, wie er der geworden ist, der er ist.
Dabei hat sie auch erkannt, dass er ein reiner Mutant ist und aufgrund seines Schicksals gar nicht weiß, dass er diese Eigenschaften hat. Ja, sogar die Heldentaten der 121 sind in ihm eingebrannt, wenn er sich an Erzählungen seiner Eltern darüber auch kaum erinnern kann.
Die folgende Stunde liegen William und sie auf dem großen Fleece-Tuch mit Mia als Barriere. Anderenfalls wären sie wohl übereinander hergefallen wie die wilden Tiere. Die sexuelle Spannung ist regelrecht überwältigend.
So muss die körperliche Vereinigung noch etwas warten. Nicht nur William, auch Lisa-Louise bedauert das. Sie gesteht es sich ein. Ob er es tut, weiß sie nicht, weil sie ihm noch nicht gezeigt hat, was miteinander Denken bedeutet, welches Geschenk und welche Last es sein kann.
Raleigh unterbricht den Rausch der Pheromone und der unter den Schädeldecken schwappenden Opiatderivate der beiden im Vermehrungswahn sich Befindenden. „Die Kleidung ist trocken. Wir könnten uns aufmachen.“
Lisa-Louise setzt sich auf und fährt sich mit der Hand über Stirn und Augen.
Dann springt sie regelrecht auf und beginnt, ihre zweite Haut überzustreifen. Ihre erste Kleidungsschicht verbirgt fast nichts.
„Wir sollten aufbrechen“, stellt sie fest. Ihr Begleiter tut es ihr schließlich zögerlich nach. Rasch ist er wieder bekleidet und sieht selbst in der abgeschabten und geflickten Kleidung noch durchaus einnehmend aus. Er wendet sich ihr zu und lächelt sie schelmisch an.
„Wollen wir uns wiedersehen?“
Gute Frage, findet sie, legt den Kopf schräg und sagt: „Du weißt, wo der Weiler ist, in dem ich lebe?“
Sie kennt die Antwort bereits, lässt sich aber nichts anmerken.
„Ja, aber das weißt du doch bereits, nicht wahr?“
Er grinst fast ein wenig verwegen.
„Fein. In drei Tagen um…“ Sie denkt einen Moment nach. „…punkt zwölf zum Mittagessen.“
„Ich komme und werde pünktlich sein“, antwortet er. Und schon begibt er sich auf den Weg zu seinem Unterschlupf, wo seine wenigen Sachen zu finden sind. An seinem Ausguck bleibt er stehen und schaut ihr zu, wie sie die Wand hinausklettert. Sie sieht dabei so unendlich sexy aus, dass es ihn beinahe schmerzt, so hart wird der Teil seines Körpers, der zu allerlei sehr vergnüglichen Übungen eingesetzt werden kann, wenn das passende Gegenstück verfügbar ist.
Sie fühlt diesen Blick an genau dieser Stelle und muss aufpassen, dass sie nicht vor Verlangen weiche Knie bekommt. In der Wand sind diese Art von Gefühlen absolut unbrauchbar und inakzeptabel, weil unprofessionell und gefährlich, und dennoch hat sie sie.
Sie muss kurz innehalten, um die Wallung abebben zu lassen. Nur die Nässe im Schoß erinnert sie an diesen Schauer, der sie zum wiederholten Mal seit ihrem Zusammentreffen regelrecht überfällt.
Oben angekommen, beschließt sie, sich gleich nochmals abzukühlen. Es ist verrückt, was so ein attraktiver Kerl in meinem Körper anrichtet – und ich kann so gut wie nichts dagegen tun. Gemein ist das, absolut unfair.
Obwohl: Die kleine Säule auf der anderen Seite von Mia, die aufstieg und wieder in sich zusammensank, sie erscheint auf einmal manifest vor ihren Augen. Ich will sie anfassen, will sie fühlen, entscheidet sie sich ernsthaft. Und wird rot.
Das Wasser im natürlichen Becken der Höhle ist sehr kalt. Aber es lindert das Sehnen und seine Auswüchse, die eher Ausflüsse sind. Um Himmels willen, stellt sie nüchtern fest, ich wusste ja gar nicht, wie sehr ich regelrecht überlaufen kann. Auf einmal muss sie laut lachen, und die Fledermäuse wachen auf und zirpen, was denn los wäre.
„Nichts, ihr Lieben, nichts Besonderes. Ich bin nur verliebt wie ein Teenager und wuschig wie eine läufige Bergleopardin. Schlaft ruhig noch ein Weilchen, bis der Abend kommt.“
Ich werde damit ernsthafte Probleme haben, aber dafür wilde und geile Tagträume. Ist doch auch schön, oder?, ist sie sich sicher.